Modul 2
Kulturelle Bezugnahme

DEFINITIONEN – ASPEKTE – BEISPIEL

Kulturelle Bezugnahme

In diesem Modul wird das Thema kulturelle Bezugnahme im Kontext aktueller Musikproduktionen und deren Produktionspraxen behandelt. Der Schwerpunkt liegt auf einem respektvollen und kontextsensiblem Umgang mit kulturellen Einflüssen in der Musik.

Zur Einordnung kultureller Prozesse in der Popmusik wird im Folgenden zwischen Transkulturalität und kultureller Aneignung unterschieden.

Transkulturalität

Musikalische Verflechtungen beschreiben die alltäglichen Prozesse, in denen Musiker*innen, Produzent*innen oder Communities Klänge, Spielweisen, Stile oder Produktionsformen aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen aufgreifen, kreativ weiterentwickeln und miteinander verbinden.
Auf diese Weise entstehen neue musikalische Ausdrucksformen und hybride Klangwelten, die für Popmusik typisch sind und zunächst nicht problematisch, solange die ursprünglichen kulturellen Kontexte respektiert werden und keine Gruppe benachteiligt oder unsichtbar gemacht wird.

Kulturelle Aneignung

Kulturelle Aneignung (engl. cultural appropriation) beschreibt, wenn Elemente aus einer marginalisierten oder unterdrückten Kultur von Angehörigen einer dominanten Gruppe übernommen, stilisiert oder kommerzialisiert werden – ohne Kontext, Respekt oder Anerkennung.

Aspekte kultureller Bezugnahme

Lies dir die von uns zusammengestellten Aspekte kultureller Bezugnahme durch.

Notiere dir Aspekte, die du für besonders relevant für den Unterricht hältst, und ergänze gegebenenfalls weitere Punkte, die aus deiner fachlichen und pädagogischen Erfahrung bedeutsam erscheinen.

Kulturelle Ausdrucksformen verändern sich, wenn sie in neue Kontexte überführt werden. Stil, Sprache, Performance oder Symbolik werden häufig angepasst oder vereinfacht, um für andere Zielgruppen anschlussfähig zu sein. Dadurch können ursprüngliche Bedeutungen abgeschwächt, verfremdet oder neu interpretiert werden.

Kulturelle Bezugnahme ist ein natürlicher Bestandteil menschlicher Kreativität. Problematisch wird er, wenn historische, soziale oder politische Kontexte ignoriert werden oder ein Ungleichgewicht zwischen den beteiligten Gruppen besteht.

Bestimmte Perspektiven, Geschichten und Stimmen werden in Medien, Bildung und Kultur bevorzugt dargestellt, während andere ausgeblendet oder vergessen werden. Kulturelle Aneignung kann dazu beitragen, dass die Ursprünge bestimmter Ausdrucksformen unsichtbar bleiben.

Menschen aus betroffenen Communities sollten die Möglichkeit haben, ihre kulturellen Ausdrucksformen selbst zu gestalten und zu vermitteln. Wenn andere diese Formen übernehmen, besteht die Gefahr der Verzerrung, Vereinfachung oder Stereotypisierung.

Kulturelle Aneignung findet innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse statt. Dominante Gruppen verfügen meist über Ressourcen, Öffentlichkeit und Kontrolle über kulturelle Produktion, während marginalisierte Gruppen in ihren Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt sind.

Häufig profitieren wirtschaftlich oder sozial privilegierte Akteur*innen von kulturellen Elementen, die aus marginalisierten Gruppen stammen. Originale Schöpfer*innen werden dabei selten angemessen entlohnt oder anerkannt.

Eine respektvolle Auseinandersetzung mit kultureller Vielfalt erfordert, Herkunft, Bedeutung und Autor*innenschaft kultureller Ausdrucksformen anzuerkennen und ihre Beiträge nicht zu vereinnahmen, sondern zu würdigen.

Bildung kann helfen, kulturelle Zusammenhänge zu verstehen, Machtverhältnisse zu reflektieren und Empathie für unterschiedliche Perspektiven zu fördern. Ziel ist eine bewusste, respektvolle und kritische Haltung gegenüber kultureller Bezugnahme.

Kulturelle Bezugnahmen am Beispiel von „Tutti Frutti“ – Little Richard

Vergleiche die drei Versionen von „Tutti Frutti“ (Little Richard – Elvis Presley – Peter Kraus) anhand der in der Tabelle aufgeführten Aspekte kultureller Bezugnahme.
Beantworte für dich die Fragen und analysiere, wie sich die musikalische Gestaltung, der kulturelle Kontext und die Rezeption jeweils unterscheiden.

Tutti Frutti
Little Richard (1955)

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Tutti Frutti
Elvis Presley (1956)

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Tutti Frutti
Peter Kraus (1956)

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Musikalische und stilistische Transformation

In den späteren Versionen von Tutti Frutti verändern sich Sound, Tempo, Ausdruck und Wirkung deutlich: Der rohe, ekstatische Gesang Little Richards, seine klaviergetriebene Energie und die körperliche, queere Bühnenästhetik werden bei Presley und Kraus geglättet, kontrolliert und an ein weißes Mainstream-Publikum angepasst. Dabei gehen spontane Ausrufe, vokale Wildheit und der druckvolle Rhythm’n’Blues-Sound verloren oder werden in Rockabilly-Pop (Presley) bzw. Schlagerästhetik (Kraus) umgedeutet. So wird der subversive Ausdruck Schwarzer, queerer Identität zu einem massenkompatiblen Popprodukt transformiert.

Kultureller Transfer und Kontext

Kulturelle Bezugnahme ist bereichernd, wenn musikalische Elemente mit Respekt, Wissen über ihren Ursprung und Kontextverständnis übernommen werden. Problematisch wird er, wenn Machtungleichheiten bestehen und ursprüngliche Bedeutungen unsichtbar gemacht oder vereinfacht werden.

Die verschiedenen Versionen von Tutti Frutti zeigen dies deutlich: Auf dem Weg von afroamerikanischen Subkulturen über den weißen US-Mainstream bis zur deutschsprachigen Unterhaltungsmusik verändern sich Sprache, soziale Bedeutung und politische Aufladung, je nachdem, wie viel Respekt und Kontextbezug dem Ursprung entgegengebracht wird.

Repräsentation und Sichtbarkeit

Rock’n’Roll wurde durch Coverversionen vor allem als „weiße Jugendmusik“ vermarktet, während die Beiträge Schwarzer Pioniere wie Little Richard lange unsichtbar blieben. In der Version von Peter Kraus wird der afroamerikanische Ursprung vollständig ausgeblendet und der Song als harmlose Unterhaltung präsentiert. Das Beispiel zeigt, wie Musikgeschichte und Medien bestimmte Stimmen hervorheben, während andere marginalisiert oder überschrieben werden.

Selbstrepräsentation

Tutti Frutti verdeutlicht, dass Selbstrepräsentation entscheidend dafür ist, wie kulturelle Ausdrucksformen wahrgenommen werden. Little Richard verkörpert Schwarze, queere und subversive Identität. Elemente, die in den Versionen von Presley und Kraus abgeschwächt oder ausgeblendet werden. Ohne die Beteiligung der ursprünglichen Community entstehen verzerrte oder verharmlosende Darstellungen, die den kulturellen Ursprung unsichtbar machen und seine Bedeutung verändern.

Macht- und Ungleichheitsstrukturen

In den 1950er Jahren kontrollierten weiße Produzenten, Labels und Radiosender die Musikindustrie und entschieden darüber, wer sichtbar wurde. Obwohl Little Richard die kreative Grundlage schuf, hatte er nur begrenzten Zugang zu Medienpräsenz und wirtschaftlicher Teilhabe. Presley und später Kraus profitierten von einem System struktureller Ungleichheit, das weißen Künstlern mehr Reichweite und Marktchancen bot.

Ökonomische Ausbeutung

Die Versionen von Tutti Frutti machen sichtbar, dass kreativer Einfluss und kommerzieller Erfolg oft ungleich verteilt sind. Während Little Richard den Song entwickelte und prägte, erzielten Presley und Kraus deutlich höhere Verkaufszahlen und Medienpräsenz. Sie profitierten wirtschaftlich von einer Leistung, für die Richard nur einen geringen Anteil erhielt, ein Beispiel für strukturell unfaire Verteilung von Urheberschaft und Gewinn.

Anerkennung und Wertschätzung

Bildung kann marginalisierte Stimmen sichtbar machen, indem historische Kontexte, Vorreiterrollen und übersehene Beiträge aktiv thematisiert werden. Das Beispiel Tutti Frutti zeigt, wie Little Richard erst Jahrzehnte später als „Architekt des Rock’n’Roll“ anerkannt wurde. Die späte Würdigung verdeutlicht, wie kulturelle Leistungen marginalisierter Gruppen oft erst rückblickend sichtbar werden und warum es wichtig ist, diese Perspektiven frühzeitig in den Unterricht einzubeziehen.

Bildung und Reflexion

Tutti Frutti ermöglicht es Lernenden, musikalische Vielfalt bewusst wahrzunehmen und zugleich über Macht, Privilegien und kulturellen Respekt nachzudenken. Durch den Hörvergleich zwischen Little Richard, Presley und Kraus erkennen sie, wie kulturelle Hintergründe, Sichtbarkeit und gesellschaftliche Strukturen musikalische Produktionen prägen und warum ein sensibler und respektvoller Umgang mit kulturellen Einflüssen wichtig ist.

Weiterführende Ressourcen

Die folgenden Videos unterstützen die Vertiefung des Themas Kultureller Bezugnahme. Sie bieten unterschiedliche Perspektiven aus Musik, Popkultur und Gesellschaft, zeigen konkrete Beispiele aus Rap, Pop und globalen Musiktraditionen und helfen dabei, die komplexen Zusammenhänge zwischen kultureller Bezugnahme, Machtstrukturen und Aneignung besser zu verstehen.

Schaue dir die Videos an und überlege:
Welche zusätzlichen Aspekte kultureller Bezugnahme werden darin sichtbar, und welche davon erscheinen dir für Schüler*innen besonders wichtig?

Was haben Shakira & Peter Fox mit kultureller Aneignung zu tun? | AUX | CANAL+ Austria

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Das folgende Video unterstützt die Vertiefung des Themas Kulturelle Bezugnahme. Es bietet zusätzliche Musikbeispiele und erklärt in Kürze zentrale Aspekte dieses Themenfelds.

Ist Deutschrap kulturelle Aneignung? Mit Disarstar, Denyo, OG Keemo und Falk Schacht | Arte TRACKS

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Die Arte-TRACKS-Reportage geht der Frage nach, ob Deutschrap als kulturelle Aneignung afroamerikanischer Hip-Hop-Kultur zu verstehen ist. Disarstar, Denyo, OG Keemo und Falk Schacht erläutern, wie stark Deutschrap von Black Culture geprägt ist, wo respektvolle Bezugnahme endet und wo Aneignung beginnt. Das Video zeigt die Spannungsfelder zwischen kultureller Inspiration, politischer Verantwortung und der Frage, wer welche Geschichten im Rap erzählen darf.

Durchführung in der Schule

Der erste Aspekt kultureller Bezugnahme Musikalische und stilistische Transformation bildet den Einstieg in die Unterrichtsstunde Respektvoller Umgang mit kultureller Bezugnahme. Die Schüler*innen analysieren die drei Musikbeispiele zunächst anhand ihrer musikalischen Gestaltung und überlegen, welche Auswirkungen diese Veränderungen auf den kulturellen Kontext der Songs haben. Im Weiteren reflektieren sie, welche Rolle Macht und Einfluss in der Musikindustrie spielen und setzen sich mit ihrer eigenen Haltung zur kulturellen Bezugnahme auseinander. Als Grundlage dient das Arbeitsblatt Umgang mit kultureller Bezugnahme.

Die unter Weiterführende Ressourcen verlinkten Videos bieten zusätzlichen Input und vertiefen das Verständnis der Thematik. Auf dieser Basis können im Plenum die auf dieser Homepage dargestellten weiterführenden Aspekte kultureller Bezugnahme gemeinsam erarbeitet und diskutiert werden.